Für Menschen, die die Natur so sehr lieben wie ich, war das Ergebnis der EU-Wahl eine herbe Enttäuschung. Es ist für mich wirklich schwer zu verstehen, wie sich die Deutschen trotz der vielen alarmierenden Ereignisse in der Welt in diesem Ausmaß gegen den so wichtigen Umwelt- und Klimaschutz entscheiden konnten. Die Unterstützung für Parteien wie die CDU und die AfD, die entweder keine ausreichenden Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel unterstützen oder ihn sogar leugnen, steht einfach im krassen Gegensatz zu den dringend notwendigen Schritten, um die Lebensgrundlagen für Menschen und Tiere langfristig zu sichern.
Der signifikante Wählerverlust der Grünen, einer der wenigen größeren Parteien, die sich überhaupt für Umwelt- und Klimaschutz interessieren, verdeutlicht die verzerrte Wahrnehmung vieler Menschen bezüglich der absehbaren Folgen des Klimawandels. Nachdem Richard David Precht vergangene Woche in seinem Podcast den Begriff der Shifting Baselines erwähnt hat, möchte ich ihn hier auch nochmals aufgreifen und für mehr Achtsamkeit werben. Ich denke, dass wir uns heute immer wieder bewusst machen müssen, dass die schleichenden Veränderungen unserer Umwelt nicht normal sind und wir uns nicht einfach daran gewöhnen dürfen.
Shifting Baselines (deutsch: Verschiebende Grundlinien) beschreiben ein Konzept aus der Umweltwissenschaft, das die schleichende Veränderung der Wahrnehmung von Umweltzuständen über die Zeit hinweg beschreibt. Es bezieht sich darauf, wie jede neue Generation oder jeder neue Zeitpunkt eine veränderte Ausgangsbasis (Baseline) akzeptiert, ohne die tatsächlichen früheren Zustände oder Veränderungen zu berücksichtigen. Dies führt oft dazu, dass Umweltprobleme oder -verschlechterungen als normal oder akzeptabel wahrgenommen werden, obwohl sie historisch betrachtet ein ernstes Problem darstellen könnten.
Umweltextreme – Das neue Normal
In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich unsere Umwelt und das Klima rapide verändert. Was früher seltene Katastrophen waren, ist heute zur traurigen Routine geworden. Hitzewellen, die ganze Regionen lahmlegen, Waldbrände, die große Landstriche in Asche legen, Müll soweit das Auge reicht, Tornados, Gletscherschmelze, Korallenbleiche und Überschwemmungen prägen zunehmend unser tägliches Leben. Und es ist zum Alltag geworden.

Als ich heute einen Tausendfüßler im Keller sah, konnte ich mich nicht erinnern, wann ich dieses Insekt zuletzt gesehen habe, außer in meiner Jugend. In meiner Kindheit bei Urlauben in der Eifel am Rursee freute ich mich immer darauf, hunderte Eidechsen zu sehen; heute hingegen ist es ein Glücksfall, dort bei einem Spaziergang eine einzige zu entdecken. Der Verlust der Artenvielfalt bereitet mir persönlich riesige Sorgen, findet jedoch in den Medien selten wirklich Beachtung.
Ist es nicht beunruhigend zu erkennen, wie schnell wir uns an diese neuen Realitäten anpassen? Obwohl ich selbst dazu übergegangen bin, keine Horrorszenarien mehr zu beschreiben, dürfen wir nicht den Fehler machen, diese Themen vollständig auszublenden. Denn eine solche Ignoranz führt zu verheerenden Wahlergebnissen wie den aktuellen, die Handlungen hervorrufen können, die unserer Natur und letztendlich uns allen schaden werden.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir heute Sonnenschutzfaktor 50 nehmen statt Faktor 6 wie ich in den 80er Jahren. Wir haben uns daran gewöhnt, das ist dann halt so. Und dann muss man halt damit rechnen, wer ein schwaches Herz hat oder alt ist, der kann im Sommer schonmal sterben wegen dauerhaften, langen 40° C in Großbritannien, wo es so etwas früher nicht gegeben hat. Oder auch bei uns.
– Richard David Precht im Podcast Lanz & Precht (Folge 145)
Gerade vor wenigen Tagen sind mehrere hundert Pilger bei der Mekkafahrt in Hadsch bei Temperaturen von bis zu 50° C an Herzversagen oder Erschöpfung verstorben (Artikel). Brüllaffen fallen in Mexiko momentan durch die extreme Hitze bewusstlos von den Bäumen und sterben. (Artikel) Auch an diese Schlagzeilen werden wir uns gewöhnen.
Viele Menschen entfremden sich von der Natur
Wie kommt es, dass so viele wirklich heftige Sachen passieren, es jedoch nicht zu einer dramatischen Wende in der Politik und vorherigen Zustimmung durch die Gesellschaft kommt? Und warum wird man ausgerechnet als Natur- und Umweltschützer angefeindet, wenn man sich für die gemeinsamen Lebensgrundlagen einsetzt? Ich bin fest davon überzeugt, dass es daran liegt, dass sich viele Menschen immer stärker von der Natur entfremden.
Menschen verbringen ihren Alltag überwiegend in städtischen Gebieten, fahren mit ihren fossil angetriebenen Autos über immer mehr Autobahnen und Asphalt zum Supermarkt, wo hoch verarbeitete Lebensmittel in sterilen Regalen liegen. Ganze zwei Millionen Tiere werden jeden einzelnen Tag hinter verschlossenen Türen getötet und das ganze Leid dieser Lebewesen ist, nett angerichtet auf dem Grill oder in der Pfanne, leider unsichtbar.

Auch im Urlaub wählen viele Menschen Massentourismusziele wie Dubai, wo eine fast lebensfremde Atmosphäre herrscht, Kreuzfahrten oder ähnliches, wo künstliche Unterhaltung und Konsum im Vordergrund stehen, abgeschottet von der Realität der natürlichen Welt und ohne den Wunsch, sich mit Einheimischen auf Augenhöhe auszutauschen. Hinzu kommt die zunehmende Bildschirmaktivität und Handynutzung, die Menschen immer mehr von der Natur isoliert.
Ob zu Hause oder unterwegs, viele verbringen einen Großteil ihrer Zeit in virtuellen Welten, ohne die natürliche Umgebung um sich herum wahrzunehmen. Kinder wachsen heutzutage oft in einer Umgebung auf, die ihnen wenig Raum für natürliche Erfahrungen bietet. Statt im Wald zu spielen oder schwimmen zu lernen, verbringen sie ihre Freizeit häufig vor Bildschirmen. Bei all diesen Veränderungen ist wahrscheinlich kaum zu erwarten, dass sich eine Leidenschaft für die Erhaltung der Natur entwickeln kann.
Was können wir aus „Shifting Baselines“ lernen?
Das Konzept der „Shifting Baselines“ zeigt, dass wir uns der schleichenden Veränderungen und ihrer Auswirkungen immer wieder bewusst werden müssen. Es wird anhand der oben beschriebenen Entwicklungen und Szenarien zweifellos eine Herausforderung, das Bewusstsein für die Dringlichkeit des Natur- und Umweltschutzes zu schärfen, wenn man sich in einer Welt bewegt, die zunehmend von technologischen Annehmlichkeiten, ungezügeltem Konsum und digitaler Ablenkung geprägt ist.
Wir müssen achtsamer werden – für die Umwelt und für die Tiere, die keine Rechte haben. Ein entscheidender Schritt in diese Richtung ist es, unseren ökologischen Handabdruck zu verstärken, also aktiv positive Veränderungen für die Umwelt zu bewirken. Wir werden verstärkt über diese Themen sprechen müssen, um das Bewusstsein in der Gesellschaft zu stärken. Nur so können Menschen meiner Meinung nach die Dringlichkeit der Umweltprobleme wirklich begreifen und verstehen, dass wir alle im selben Boot sitzen.

Auch wenn es vielen, mir eingeschlossen, schwerfällt, sich politisch zu engagieren: Jetzt ist es wahrscheinlich wichtiger denn je, aktiv zu werden, um sicherzustellen, dass Parteien, die sich nicht um die Natur scheren, nicht überhand gewinnen. Ich habe ehrlich gesagt oft den Gedanken, einfach irgendwohin auf eine Insel zu flüchten. Das Problem ist nur, dass die Klimakrise mit all ihren Konsequenzen auch vor diesem Ort nicht Halt machen wird…
Hallo liebe Ute,
Ein Großteil meiner Arbeit beschäftigt sich mich der gesellschaftlichen Anpassung an den Klimawandel. Auch wenn es leider absehbar war, hat mich das Ergebnis der Wahlen – wie dich scheinbar auch – doch erschüttert. Ich teile im großen und ganzen deine Analysen zu den eher kritischen die du oft in deinem Blog anschlägst. Leider ist die gesellschaftliche Transformation die aufgrund des Klimawandels und der Biodiversitätskrise unausweichlich ist ein sehr emotionales Thema, weshalb eine sachliche Auseinandersetzung nicht immer leicht ist. Ich finde deshalb deinen Ansatz, dass du von deiner persönlichen Transformation und deinen Erfahrungen und Erkenntnissen schreibst und diesen Teil deines Lebens öffentlich machst sehr wertvoll und bin mir sicher, dass du viele inspirierst.
Ich weiß nicht ob es ’normal‘ is oder schon immer so war, dass nur durch das Vorleben und für andere ein Beispiel oder eine Inspirationsquelle zu sein bei emotionalen Themen auch manche deine Gedanken und Erfahrungen als Bevormundung verstehen. Ich hoffe, dass sich die Anfeindungen und negativen Äußerungen in Grenzen halten und dass sie dich nicht zu sehr frustieren oder beschäftigen.
Ich finde es interessant welche Lösung du für dich bzgl. des Reisen findest. Mir stellt sich nur oft die Frage warum wir reisen, was wir suchen (für manche ist es evtl. auch eher ein Fliehen statt ein Suchen). Die Frage ist für mich wichtig weil ich auch wie du das ‚traditionelle‘ Reisen hinterfrage. Persönlich habe ich für mich vorerst die Lösung gefunden in meinem Ort fremde Kulturen kennenzulernen. Also konkret Freundschaften mit Leuten aus fernen Ländern die in meinen Ort gezogen sind aufzubauen und zu pflegen und sie zu bitten ihre Kultur mit mir zu teilen. Nichtsdestotrotz ist dies mein eigener Weg…
Was möchte ich mit diesem langen Kommentar überhaupt sagen? 3 Dinge
a) Danke – Danke für den Blog und das veröffentlichen von deinen Gedanken und Erfahrungen
b) Das folgende weißt du sicher, dennoch möchte ich dir hiermit auch sagen, dass du nicht alleine bist mit deinen Gedanken.
c) Zudem wollte ich fragen ob du zufällig schon mal einen Artikel zu der Frage geschrieben hast, warum wir eigentlich Reisen, woher kommt das Verlangen, was suchen wir, ist es „nur“ Neugier, Erfahrungsgewinn, Fliehen aus dem Alltag oder ist da mehr? Falls ja, kannst du auf diesen Artikel kurz verweisen?
Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg und alles Gute auf deinem Weg!
Lieber Manuel,
vielen Dank für diesen tollen Kommentar und die Beschreibung deiner Eindrücke! Es tut wirklich gut zu hören, dass man nicht alleine ist mit seinen Gedanken. Über das Thema „Warum wir reisen“ habe ich bisher noch nichts geschrieben, weil ich das zu wenig einschätzen kann. Anders gesagt, das „wir“ ist mir für eine Einschätzung zu groß und vielfältig, als dass ich daraus eine gemeinsame Schnittmenge bilden könnte. Social Media hat da glaube ich auch massiv viel verändert. Einen schönen Artikel zum Thema gibt es z. B. in der Neuen Zürcher Zeitung „Warum wollen wir dorthin, wo schon alle waren?“.
Find ich klasse, dass du dir darüber Gedanken machst!
Viele Grüße und bis bald einmal!
Ute
Hallo Ute,
das ist ein sehr interessanter Ansatz. Wir können wirklich feststellen, dass die Grünen
mit der ökologischen Transformation gescheitert sind. Und warum?
Eigentlich lieben Menschen keine Veränderung. Vor die Wahl gestellt das eigene Verhalten zu ändern
oder mit den Konsequenzen zu leben dies nicht zu tun wählt die große Mehrheit das zweite.
Nicht mehr in Urlaub zu fliegen oder auf den „Langeweilekonsum“ (Billig Klamotten bei SHEIN, sinnlose Mitbringsel von NanuNana) zu verzichten wird leider nicht akzeptiert.
Die als staatliche Repression empfundenen Maßnahmen der letzten Jahre treiben die Menschen zur AFD.
Für mich ist der Schlüssel einen Weg zu finden, wie wir ohne Konsum und Ablenkung mit unserer wachsenden Freizeit umgehen können. Die Hürden zu Musik, Kunst und Literatur sind leider wohl höher als zu den beliebten niederschwelligen
Freizeitangeboten, die unser Klima zerstören.
Danke für Deine Gedankenanregung und weiter viel Mut und Zuspruch!
Hallo Rudi,
dein Ansatz hört sich sehr gut an! Und ich denke auch, dass die staatliche Repression gemeinsam mit entsprechendem Lobbyismus zum Rechtsruck mit all seinen vorhersehbaren Konsequenzen geführt hat. Es fängt ja heute schon an, wenn man zum Beispiel liest, dass die AfD Vereine mit Zivilcourage beim Finanzamt anzeigt, die sich für Toleranz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Haarsträubend. Daher ist für mich die Aufklärung auch so wichtig, wenngleich es nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist und ich den Eindruck habe, dass viele Menschen die Unzufriedenheit mit ihrem eigenen Leben nicht anders wissen auszudrücken als ihre Stimme einer Partei voller Hass zu geben.
Viele Grüße und Danke für deinen Zuspruch!
Ute