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Unkritisch reisen: Warum Menschen die Arbeitsbedingungen in den Golfstaaten verharmlosen

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Ein Mann auf einer Holzkonstruktion sehr gefährlich - Situation in den Golfstaaten mit problematischen Arbeitsbedingungen
Foto © Josh Olalde / Unsplash

Fast alles, was unseren komfortablen Alltag betrifft, basiert darauf, dass irgendwo auf der Welt Menschen für sehr kleines Geld arbeiten. Ob in der Textilindustrie, in der Landwirtschaft, im Bauwesen oder im Tourismus – unser Wohlstand ruht häufig auf den Schultern derjenigen, die kaum davon profitieren und nicht selten ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben aufs Spiel setzen.

So auch in den Golfstaaten, zu denen die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) mit Städten wie Dubai und Abu Dhabi sowie die Länder Saudi-Arabien und Katar gehören. Sie wetteifern mit gigantischen Bauwerken, internationalen Events und wachsendem Tourismus – Projekte, in die exorbitant hohe Summen fließen. Besonders skurril daran ist, dass diese Milliarden in Gebiete gepumpt werden, die im Laufe der nächsten Jahrzehnte durch die Erderwärmung vermutlich nahezu unbewohnbar werden.

Schon heute erreichen die Temperaturen im Sommer häufig Werte über 40° C, mit Spitzen bis zu 45° C. Während Touristen die Annehmlichkeiten in klimatisierten Räumen genießen können, sieht die Realität für viele Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen ganz anders aus. Und obwohl das alles inzwischen altbekannte Informationen sind, wird eine Reise dorthin oder das System an sich immer noch schöngeredet – mit Rechtfertigungen, die meiner Meinung nach unbedingt klarer zur Sprache gebracht werden sollten.

5 Aussagen über Gastarbeiter und ihre Lebensrealität – und was dahintersteckt

Eines der Hauptprobleme in der Diskussion über die Arbeitsbedingungen in den Golfstaaten liegt meiner Ansicht nach im fehlenden Einfühlungsvermögen. Deshalb möchte ich auf die typischen Aussagen, die immer wieder fallen und sich beispielsweise auch in den Kommentaren zu meinem Artikel über Dubai widerspiegeln, mit den Erkenntnissen aus meiner Recherche eingehen und sie aus einer etwas anderen Perspektive betrachten.

1. „Sie verdienen doch viel mehr als in ihrer Heimat.“

Annahme: Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen in den Golfstaaten verdienen tatsächlich oft mehr als in ihren Heimatländern. Doch um diesen Job anzutreten, zahlen sie in der Regel hohe Vermittlungsgebühren, sie müssen die Flüge, Unterkünfte und Verpflegung selbst tragen und geraten nicht selten sogar in Schulden. Manchmal erhalten sie trotz harter Arbeit gar keine Bezahlung. Gleichzeitig arbeiten sie unter extremen Bedingungen, die ihre Gesundheit gefährden und sie psychisch sowie physisch belasten.

Was dahinter steckt: Die Annahme basiert auf der Vorstellung, dass ein höherer Lohn automatisch bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen bedeutet. Sie übersieht jedoch, dass diese höheren Löhne oft durch die extremen Lebensumstände und die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter relativiert werden.

Was notwendig ist: Es geht darum, die Würde jedes Menschen zu respektieren und Arbeitsbedingungen zu schaffen, die nicht nur das Einkommen sichern, sondern auch die Lebensqualität gewährleisten – unabhängig davon, woher jemand kommt.

Einladung zur Reflexion: Stell dir vor, du wärst gezwungen, unter extremen Bedingungen zu arbeiten: fern von deiner Familie, ohne irgendwelche Rechte oder Sicherheit. Würdest du wirklich unter diesen Umständen arbeiten? Unter Umständen sogar dein Leben riskieren? Wie würdest du es finden, unter diesen extrem schlechten Bedingungen zu arbeiten, während deinem Arbeitgeber das Geld aus den Taschen quillt? Und wie würdest du es empfinden, wenn jemand aus einem privilegierten Land mit allen erdenklichen sozialen Absicherungen auf dich herabschauen und die menschenunwürdigen Bedingungen, in denen du leben musst, schönreden würde?

Ich habe 1.115 US-Dollar an Rekrutierungsgebühren an den Agenten gezahlt, die ich mir von Verwandten zu 42% Zinsen geliehen habe. Man sagte mir, dass ich als Kellner in einem Hotel arbeiten würde, aber stattdessen wurde ich als Arbeiter in einer Möbel-Fabrik eingesetzt, wo ich Lasten tragen musste. Das entsprach nicht meinem Vertrag. Mein versprochenes monatliches Gehalt war 346 US-Dollar für 8 Stunden, aber ich musste 14 Stunden am Tag arbeiten. Die ersten zwei Monate wurde ich pünktlich bezahlt, aber danach nie mehr.

– Ein ehemaliger Migrant aus Nepal, der in Saudi-Arabien gearbeitet hat, Zitat aus „Die First, and I’ll Pay you later

2. „Die machen das doch freiwillig.“

Annahme: Viele Menschen denken, dass Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen diese Jobs aus freien Stücken annehmen, weil sie die Möglichkeit haben, mehr zu verdienen als in ihrer Heimat. Dadurch wird suggeriert, dass die Arbeitsbedingungen letztlich keine Rolle spielen – schließlich hätten sie auch „nein“ sagen können.

Was dahinter steckt: Diese Aussage blendet aus, dass es oft keinen wirklichen Spielraum für eine freiwillige Entscheidung gibt. Die meisten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen kommen aus extrem armen Regionen, in denen die wirtschaftliche Situation so schlecht ist, dass sie keine Alternativen haben. Es geht nicht um Freiwilligkeit, sondern um den Zwang, ihre Familien zu ernähren und Schulden zu begleichen. „Freiwillig“ bedeutet hier oft schlichtweg Überleben.

Was notwendig ist: Es braucht ein Verständnis dafür, dass Armut und Perspektivlosigkeit keine echten Entscheidungen zulassen. Diese Menschen haben – wie wir auch – ein Recht auf faire Löhne, erst recht in solch wohlhabenden Regionen, und verdienen zudem menschenwürdige Arbeitsbedingungen – unabhängig davon, wie dringend sie diese Arbeit benötigen.

Einladung zur Reflexion: Stell dir vor, du hättest keine Wahl: Deine Familie hungert, und in deinem Land gibt es keine Arbeit, die euch über Wasser halten könnte. Würdest du dich dann freiwillig für einen Job entscheiden, der dich deiner Rechte beraubt, deine Gesundheit gefährdet und dir keine Sicherheit bietet? Ist es wirklich Freiwilligkeit, wenn es keine Alternativen gibt?

Von den 234 Arbeitsmigranten, die Amnesty International interviewt hat, war keiner im Besitz seines Passes. Alle berichteten von Missständen und Menschenrechtsverletzungen. Schon in ihren Heimatländern waren ihnen falsche Versprechungen über die Höhe des Lohnes und die Art der Beschäftigung gemacht worden.

– Aus „Sei still und arbeite weiter“ über Katar von Amnesty International

3. „Ohne diese Jobs hätten sie ja gar nichts.“

Annahme: Dieses Argument klingt auf den ersten Blick mitfühlend, denn es stellt die Arbeit in den Golfstaaten als eine Möglichkeit dar, der Armut zu entkommen. Es wird impliziert, dass die Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen dankbar sein sollten, überhaupt einen Job zu haben – unabhängig von den Bedingungen.

Was dahinter steckt: Die Aussage basiert auf einer sehr privilegierten Perspektive. Sie ignoriert, dass viele dieser Menschen in eine Situation gedrängt werden, in der sie keine Wahl haben. Der scheinbare „Job als Rettung“ ist oft das Ergebnis von extremer Armut, Perspektivlosigkeit und einem System, das sie zu reiner Arbeitskraft degradiert. Dankbarkeit wird erwartet, obwohl sie unter Bedingungen arbeiten, die niemand aus einer privilegierten Gesellschaft akzeptieren würde.

Was notwendig ist: Es braucht die Anerkennung, dass ein Job nicht automatisch ein Geschenk ist, sondern dass er menschenwürdig sein muss. Wenn ein System darauf basiert, Menschenrechte und Würde zu opfern, ist es nicht das Problem der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen – sondern das des Systems.

Einladung zur Reflexion: Stell dir vor, du wärst gezwungen, einen Job anzunehmen, der dir deine Rechte nimmt, dich deiner Sicherheit und Freiheit beraubt und dich deiner Familie entfremdet. Würdest du wirklich das Gefühl haben, gerettet zu sein? Oder würdest du nicht erwarten, dass ein Job – vor allem in einer so wohlhabenden Region – mindestens menschenwürdige Bedingungen bietet?

Die Hälfte der befragten Frauen arbeitet mehr als 18 Stunden am Tag und die meisten haben keinen einzigen freien Tag. Einige berichteten, dass sie nicht angemessen bezahlt würden. 40 Frauen beschrieben sogar, wie sie beleidigt, geschlagen oder angespuckt wurden.

– Artikel „Katar: Hausangestellte ausgebeutet und missbraucht“ von Anmesty International

4. „Sie wussten doch, worauf sie sich einlassen.“

Annahme: Die Aussage geht davon aus, dass die Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen bei der Annahme ihrer Jobs vollständig informiert waren – über die Arbeitsbedingungen, die Risiken und die Lebensumstände. Daraus wird abgeleitet, dass sie keine Kritik äußern dürften, weil sie diese Bedingungen angeblich bewusst akzeptiert haben.

Was dahinter steckt: Diese Annahme ignoriert, dass viele Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen durch Vermittlungsagenturen in ihre Jobs gelockt werden, die ihnen falsche Versprechungen machen. Sie erfahren oft erst vor Ort, wie schlecht die Bedingungen tatsächlich sind. Außerdem lässt diese Aussage außer Acht, dass extreme Armut und fehlende Alternativen sie in eine Situation drängen, in der sie nicht „freiwillig“ entscheiden können.

Was notwendig ist: Es ist entscheidend, zwischen einer informierten Entscheidung und einer Entscheidung aus purer Verzweiflung zu unterscheiden. Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen brauchen keine Vorwürfe, sondern Schutz und faire Bedingungen, die nicht auf Täuschung oder Zwang beruhen.

Einladung zur Reflexion: Stell dir vor, dir wird ein Job angeboten, der ein besseres Leben für dich und deine Familie verspricht. Du nimmst ihn an, nur um festzustellen, dass die Realität völlig anders ist: dein Lohn reicht kaum zum Leben, du hast keine Rechte, und du kannst nicht einmal frei entscheiden, den Job zu verlassen. Würdest du dich dann mit dem Argument abfinden, dass du „wusstest, worauf du dich einlässt“?

Arbeitsmigranten in Saudi-Arabien, die etwa 41,6 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind weiterhin weit verbreiteten Misshandlungen und Ausbeutung ausgesetzt.

– Human Rights Watch: World Report 2024

5. „In ihren Heimatländern geht es ihnen doch noch schlechter.“

Annahme: Dieses Argument relativiert die schlechten Bedingungen in den Golfstaaten, indem es auf die noch schlechteren Verhältnisse in den Herkunftsländern der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen verweist. Es impliziert, dass ihre aktuelle Situation besser ist als nichts – und dass daher keine Kritik gerechtfertigt ist.

Was dahinter steckt: Die Aussage dient dazu, die Verantwortung von wohlhabenden Ländern wie den Golfstaaten abzuweisen. Sie rechtfertigt indirekt die Ausbeutung, weil es angeblich immer jemanden gibt, dem es schlechter geht. Dabei wird übersehen, dass der immense Wohlstand in den Golfstaaten auf der Arbeit dieser Menschen basiert – und dass gerade diese Länder es sich leisten könnten, bessere Bedingungen zu schaffen.

Was notwendig ist: Armut und Ungerechtigkeit in einem Land rechtfertigen keine weitere Ausbeutung in einem anderen. Stattdessen braucht es die Anerkennung, dass jeder Mensch – unabhängig von seiner Herkunft – das Recht auf faire Arbeitsbedingungen und ein würdevolles Leben hat.

Einladung zur Reflexion: Stell dir vor, du kommst aus einem Land, in dem Armut herrscht. Du suchst eine bessere Perspektive und wirst in ein Land gelockt, das im Überfluss lebt – nur um festzustellen, dass man dich dort behandelt, als wärst du nichts weiter als ein Werkzeug. Würde es dich trösten, wenn man dir sagt, dass es dir zu Hause noch schlechter ginge? Oder würdest du erwarten, dass dein Beitrag zum Wohlstand dieses Landes mit Respekt und fairen Bedingungen honoriert wird?

Arbeitsmigranten in den VAE, die 88 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind extremen Hitzerisiken ausgesetzt, ohne ausreichenden Schutz. Human Rights Watch hat dokumentiert, dass extreme Hitze eine ernsthafte Gesundheitsgefährdung für Arbeitsmigranten in den VAE darstellt.

– Human Rights Watch: World Report 2024

Und schon bald steht das nächste Megaprojekt an: Für die Fußball-WM 2034 in Saudi-Arabien werden erneut zehntausende Männer und Frauen aus Ländern wie Indien, Pakistan und Bangladesch in die Golfregion reisen. Doch nicht, um – wie wir – genüsslich Urlaub zu machen oder als Zuschauer die Spiele zu genießen. Sie kommen in der Hoffnung, durch harte, oft gefährliche Arbeit ein besseres Leben für sich und ihre Familien zu ermöglichen. Der Preis für diesen Traum ist jedoch hoch. Sehr hoch.

Vielleicht sollten wir uns beim Staunen über den Glanz und Glamour in der Wüste fragen, wie die Menschen leben, die diesen Luxus mit ihrer Arbeit ermöglichen. Das bedeutet nicht, auf Reisen zu verzichten, sondern sich zu fragen: Möchte ich Teil eines Systems sein, das auf der Ausbeutung von Menschen beruht? Empathie und Respekt sind hier möglicherweise der erste Schritt zu einer wichtigen Veränderung.

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Geschrieben von
Ute Kranz

Als Gründerin und Inhaberin dieses Reiseblogs teile ich seit 2013 meine Begeisterung fürs Reisen und eine bewusste Lebensgestaltung. Seit einigen Jahren beschäftige ich mich zudem verstärkt mit gesellschaftlich relevanten Themen.

2 Kommentare

  • Vielen Dank für diesen Artikel. Ich habe eben die Kommentare zu dem über Dubai überflogen – es ist erschreckend, wie viele Menschen nicht verstehen, dass diese Orte nur für uns als sehr Privilegierte so angenehm sind (sieht man mal von Luftverschmutzung, endlosem Beton und Asphalt etc. ab)… Ich habe vor einiger Zeit immer wieder einige Wochen am Stück beruflich in Doha verbracht. Wenn man sich auch nur einmal kurz (auch mental) aus seiner Blase herausbewegt, kann man sehr deutlich sehen, wie globale Ungleichheit und Ungerechtigkeiten sich dort an einem einzelnen Ort wiederfinden lassen (und man nicht wie in DEU teils sehr weit weg davon ist).

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