Seit Jahren leben wir mittlerweile im Dauerkrisenmodus. Auf Social Media, in den Nachrichten, in Gesprächen – überall begegnen uns Wut, Empörung und das Gefühl, ständig gegen etwas kämpfen zu müssen. Dabei hat sich die Art der Empörung verändert. Es geht häufig nicht mehr um eine sachliche Auseinandersetzung, sondern um schnelle, emotionale Reaktionen auf einzelne Aussagen, Schlagzeilen oder Social-Media-Posts. Ein Satz, eine Provokation – und sofort eskaliert die nächste Welle der Aufregung.
Gleichzeitig verschärfen sich Ton und Ausdrucksweise. Anstelle von echten Diskussionen dominieren Zuspitzungen und persönliche Angriffe. Oft steht nicht mehr die Sache im Mittelpunkt, sondern die Frage, wer sich am lautesten empört. Und leider bringt genau das auch noch viele Klicks. Für mich fühlt es sich gerade so an, als könne man nichts Normales mehr unbeschwert teilen, ohne dass es als fehl am Platz oder gar als Gleichgültigkeit ausgelegt wird.
Ein Zustand, den ich als sehr belastend empfinde. Natürlich kann man Inhalte stummschalten, Accounts entfolgen oder die Nutzung von Podcasts, sozialen Medien und Nachrichten einschränken – aber es fühlt sich fast unmöglich an, dem komplett zu entkommen. Sich für Werte einzusetzen, macht durchaus Sinn. Aber was, wenn diese permanente Empörung am Ende mehr spaltet als verändert?
Hier sind sechs Gründe, warum sie oft das Gegenteil von dem bewirkt, was wir eigentlich wollen:
1. Angst lähmt statt zu motivieren
In der Hoffnung, Menschen zum Handeln zu bewegen, wird oft mit Angst gearbeitet: „Wenn wir jetzt nichts tun, ist es zu spät!“ Doch psychologisch betrachtet, führt starke Angst- und Panikmache nicht zu mehr Engagement – sondern genau zum Gegenteil. Menschen fühlen sich überfordert, entwickeln Resignation und das Gefühl, dass sie ohnehin nichts mehr ändern können.
🔸 Psychologischer Effekt: Learned Helplessness (Erlernte Hilflosigkeit)
🔸 Folge: Wer aufgibt, engagiert sich nicht mehr, geht vielleicht nicht mehr wählen oder zieht sich komplett aus politischen Diskussionen zurück.
2. Aggressive Sprache verstärkt Angst
Empörung führt oft zu immer drastischerer Rhetorik. Die unzähligen, inzwischen gängigen Schlagworte wie „Zerstörung“, „Brandmauer“ oder „Katastrophe“ lösen bei vielen Menschen starke Bedrohungsgefühle aus. Die Absicht dahinter mag sein, Menschen wachzurütteln, doch in Wahrheit verstärkt es das Gefühl von Unsicherheit und Hilflosigkeit.
🔸 Psychologischer Effekt: Framing-Effekt
🔸 Folge: Aggressive Sprache schürt Angst, macht Probleme oft größer, als sie sind, und kann zu noch mehr Spaltung führen, anstatt Lösungen zu bringen.
3. Populismus profitiert von Empörung
Je mehr sich Menschen über bestimmte Politiker:innen, öffentliche Personen oder Themen empören, desto mehr Reichweite und Aufmerksamkeit bekommen diese. Selbst negative Berichterstattung führt oft dazu, dass populistische Akteure mehr Anhänger gewinnen, weil sie ständig im Mittelpunkt stehen.
🔸 Psychologischer Effekt: Negativity Bias (Negativitätsverzerrung)
🔸 Folge: Radikale Positionen gewinnen oft nicht trotz, sondern wegen der Empörung an Popularität – sei es durch die mediale Dauerpräsenz oder die Solidarisierung ihrer Anhänger.
4. Emotionale Erregung verzerrt unsere Wahrnehmung
Je öfter Menschen eine bestimmte Aussage hören, desto glaubhafter erscheint sie – selbst wenn sie eigentlich wissen, dass sie falsch ist. Diese Dynamik sorgt dafür, dass viele Menschen sich in Empörungs-Schleifen befinden, in denen sie ständig dieselben Negativnachrichten konsumieren, ohne sie noch kritisch zu hinterfragen.
🔸 Psychologischer Effekt: Illusory Truth Effect (Illusion der Wahrheit)
🔸 Folge: Wiederholte Empörung verstärkt Narrative und macht es schwerer, Fakten von Meinungen zu unterscheiden – was wiederum Spaltung und Missverständnisse verstärkt.
5. Je mehr Druck, desto stärker der Widerstand
Viele Menschen mögen es nicht, wenn sie sich moralisch belehrt oder in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen. Je mehr gesellschaftlicher oder medialer Druck aufgebaut wird, desto stärker neigen einige dazu, genau das Gegenteil von dem zu tun, was eigentlich beabsichtigt war.
🔸 Psychologischer Effekt: Reaktanz-Theorie
🔸 Folge: Moralischer Druck führt dazu, dass Menschen sich belehrt fühlen und aus Trotz gegen eine Bewegung sind – selbst wenn sie ihr ursprünglich nahe standen.
6. Angst treibt in Extreme
Wenn Menschen sich konstant bedroht fühlen, suchen sie nach Schutz und klaren Antworten. Studien zeigen, dass Menschen in unsicheren Zeiten eher zu autoritären, konservativen oder extremen Positionen neigen – weil sie das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle geben.
🔸 Psychologischer Effekt: Terror-Management-Theorie
🔸 Folge: Eine ständige Angst-Kommunikation kann ungewollt dazu führen, dass Menschen sich radikalisieren, weil sie einfache Lösungen in komplexen Zeiten bevorzugen.
Ist Empörung wirklich der richtige Weg?
Angststörungen und Depressionen nehmen weltweit zu – auch in Deutschland. Das Leben vieler Menschen ist bereits von Unsicherheit geprägt und die ständige Konfrontation mit Wut, Empörung und Panikmache kann diese Gefühle noch verstärken. Vielleicht lohnt es sich zu hinterfragen, ob das dauerhafte Teilen von destruktiven Emotionen und aggressiver Sprache wirklich das Ziel erreicht, das wir uns wünschen.
Ich für meinen Teil habe auf Social Media schon relativ lange von Empörungsthemen Abstand genommen, weil ich nie wissen kann, wen ich damit gerade erreiche und was das mit ihr oder ihm macht. Ich möchte auch gern selbst entscheiden können, wo und wann ich (schlechte) Nachrichten konsumiere. Von aggressiver Sprache distanziere ich mich ohnehin, weil ich sie unglaublich problematisch finde.
In den letzten Monaten ist mir das digitale „Rauschen“ zu viel geworden, weshalb ich mich bewusst für eine digitale Auszeit entschieden habe – ein Digital Detox, um positiv und entspannt zu bleiben, statt von der Empörungswelle weggeschwemmt zu werden. Dabei geht es nicht darum, sich allem zu entziehen, sondern darum, eine Balance zu finden: informiert zu bleiben, aber nicht ständig emotional ausgelaugt zu sein. #achtsamkeit
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Lesetipp
Schluss mit dem täglichen Weltuntergang
In ihrem Sachbuch erklärt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, warum uns die Informationsflut der modernen Medien überfordert und welche Auswege es gibt. Maren Urner warnt vor den fatalen Auswirkungen dieser Art von Berichterstattung: Wir sind ständig gestresst, unser Gehirn ist dauerhaft im Angstzustand, und unsere Sicht auf die Welt wird durch Schwarz-Weiß-Malerei und Panikmache verzerrt. So gewinnen wir keinen Überblick über die Geschehnisse, sondern bleiben überfordert und hilflos zurück.
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Sehr spannend ist auch die Markus Lanz-Sendung, in der Prof. Dr. Maren Urner – Mitgründerin von Perspective Daily – über dieses Thema spricht und ihre Perspektiven auf die Auswirkungen der Dauerkrise teilt. (→ Zur Sendung)
Was für ein unglaublich toller Artikel, sehr reflektiert und das erste Mal, dass ich diese Sichtweise in dieser Form gelesen habe! Holt mich sehr ab, ich habe mich seit ein paar Wochen auch von Social Media und Nachrichten abgemeldet und was soll ich sagen- mir fehlt nix. Im Gegenteil, mir geht es wieder deutlich besser, ich schlafe sogar merklich länger und die Welt ist trotzdem noch nicht untergegangen. Danke für diesen Beitrag, ich lese deine Artikel und Gedanken wirklich gerne. Schönen Abend!
Liebe Britta,
vielen vielen Dank für dieses tolle Feedback! Es freut mich sehr, dass der Artikel dich so abgeholt hat – ich habe mich schon länger gefragt, warum da niemand mal was sagt und ehrlich gesagt habe ich einige Tage gebraucht, um ihn überhaupt zu veröffentlichen… Und ich kann deine Entwicklung so gut nachvollziehen! Sich aus dem Dauer-Alarmismus zurückzuziehen, macht einen riesigen Unterschied und ist jetzt so wichtig. Ich finde es spannend, dass du das sogar am Schlaf merkst! Danke auch, dass du meine Texte begleitest – das bedeutet mir wirklich viel. Dir auch einen schönen Abend! :)
Liebe Grüße
Ute
Danke für diesen Artikel! Dass mir all die Nachrichten und Posts, die sich darum drehen, nicht gut tun, merke ich seit einiger Zeit deutlich. Zwischendurch lösche ich Insta zwar immer wieder, aber so richtig abschalten lässt mich das auch nicht.
Dein Artikel fasst all das, was ich nicht Worte fassen konnte, so wunderbar einleuchtend zusammen und macht es mir gerade leichter, einen achtsameren Weg des Nachrichten-Konsum einzuschlagen.
Ps: der Artikel wird direkt weitergeleitet und geteilt, denn ich weiß, dass es in meinem Umfeld sehr vielen Personen gerade so geht und alles einfach viel zu laut ist.
Liebe Lotte,
Danke dir für deine Worte! <3 Ich kann so gut nachvollziehen, was du beschreibst und ich tue mich auch schwer damit. Ich glaube, wir brauchen den Mut, uns bewusst rauszunehmen und uns zu erlauben, Kraft zu tanken – ohne das Gefühl, etwas zu verpassen oder unbedingt mitreden zu müssen. Dass du den Artikel teilst, freut mich riesig! Vielleicht ermutigt er ja noch mehr Menschen, sich ein Stück Ruhe zurückzuholen. Selbstfürsorge ist in dieser Zeit sehr wichtig!
Ganz liebe Grüße!
Ute